Unter Büchern

Unter Büchern

Samstag, 17. Dezember 2016

Velma Wallis: Zwei alte Frauen

Copyright: Cornelia Conrad
Hier ist der ultimative Geschenktip für alle, die noch nach etwas ganz besonderem suchen.
Als das schmale Büchlein vor 24 Jahren das erste Mal auf deutsch erschien, war ich so begeistert davon, daß ich  sofort 20 Stück gekauft  und zu Weihnachten  allen Freundinnen  geschenkt habe. Da es aber immer noch Menschen geben soll, die diese wunderbare Indianerlegende nicht kennen, setze ich ich sie als letzten Beitrag für dieses Jahres in meinen Blog.
Ein Indianerstamm in Alaska erlebt einen besonders harten Winter. Es gibt so gut wie keine Tiere mehr  zu jagen, die Elche haben sich vor der großen Kälte verzogen. Es droht der Hungertod. Da beschließt der Ältestenrat: der Stamm muß auf Nahrungssuche gehen, fort, in eine bessere Gegend, in der man den Winter  überleben kann.
Zu dem Stamm gehören auch zwei alte Frauen.  Schon lange werden sie von den Jüngeren mit Nahrung und Wasser versorgt, und wenn der Stamm in andere Gegenden weitergezogen ist, hat man ihnen ihre Lagerplätze eingerichtet.
Da die beiden  Frauen nur noch unnütze Esser sind, beschließt der Häuptling: sie sind alt und gebrechlich, bei der beschwerlichen Wanderung nur hinderlich – deshalb werden sie zurückgelassen. Das ist Stammesgesetz...

Sonntag, 27. November 2016

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

Copyright: Cornelia Conrad
Ich war früher auch so: gab es einen Hype um ein Buch – und stand es ewig auf der Bestsellerliste und lag es in jedem Schaufenster -, rümpfte ich die Nase und dachte mir:
Das kann ja nix sein!
Das hier ist aber was! Nämlich großartig. Süffig. Intelligent. Atmosphärisch. Und süchtig machend.
Elena Ferrante erzählt in diesem wunderbaren Buch die Geschichte von zwei Mädchen. Lila und Elena. Sie lernen sich im Neapel der 1950er Jahre als Kinder kennen und hängen wie die Kletten aneinander. Dabei sind sie sehr unterschiedlich: Elena, die Ich-Erzählerin, die die ganze Geschichte ihrer Freundschaft mit Lila in der Retrospektive erzählt, ist ein narzisstisches, ehrgeiziges Kind (nicht unbedingt sympathisch); Lila dagegen ist sehr gradlinig, oft sehr ruppig, hochintelligent – und rätselhaft.
Während Elena die weiterführende Schule besuchen darf, muß Lila ihrem Vater in seiner Schusterwerkstatt helfen. Aber sie besorgt sich einen Ausweis für die Bibliothek der Stadt (und für Vater-Mutter-Bruder  gleich mit, obwohl die nichts vom Lesen halten, aber so kann sie mehr Bücher ausleihen!) und lernt autodidaktisch alles (und leichter und schneller), was Elena in der Schule mühsam erarbeitet.

Samstag, 12. November 2016

J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land

Das ist eine ganz entzückende, zarte kleine Geschichte, deren Leichtigkeit mich sehr verzaubert hat.
Ein junger Mann, schwer kriegstraumatisiert, kommt im Sommer des Jahres 1920 in das kleine englische Dorf Oxgodby – er hat  seinen ersten Auftrag als Restaurator: er soll dort ein übertünchtes Wandgemälde in der Kirche freilegen.
Der Pfarrer, Reverend Keach, findet das zwar unsinnig, ist ensprechend muffig und abweisend; da er aber das Testament einer reichen Frau erfüllen muß (Bedingung: Ihr bekommt mein Geld nur, wenn Ihr das verborgene Wandgemälde in der Kirche freilegen lasst!), begrüßt er den jungen Fremden widerwillig: „Mein Gesicht... neigte zu krampfartigen Zuckungen. Menschen wie Reverend Keach riefen es geradezu hervor...“
Langsam lernt der junge Mann, dessen Namen wir erst im Verlauf der Geschichte erfahren (er heißt Tom Birkin), die Dorfbewohner kennen. Allen voran die bildhübsche Alice Keach, Ehefrau des muffigen Pfarrers, die ihn in ihrer Schönheit an ein Botticelli-Gemälde erinnert: „Man stelle sich vor – der ganze Stolz der Uffizien spazierte einfach so in der Fremde herum, in – Gott stehe uns bei – Oxgodby!“  Dann gibt es noch die 14jährige Kathy Ellerbeck, Tochter des Bahnhofsvorstehers, die Tom Birkin unmerklich immer mehr ins (Dorf-)Leben zieht. Oder den nonchalanten Moon, der nach einem uralten Sarg auf dem Kirchengelände suchen soll.
Mr. Birkin wohnt, um Geld zu sparen, im Glockenturm der Kirche. Von dort hat er einen hinreißenden Blick hinunter auf die englische Sommerlandschaft. Und  schläft da oben „zum ersten Mal seit vielen Monaten  wie ein Toter... Nachts gab es dort oben auf meinem Dachboden hoch über den Wiesen und Feldern  und fern der Straße, zu weit entfernt, als dass Stimmen zu hören gewesen wären, nichts, was mich störte.“
Je mehr Mr. Birkin Stück für Stück in das Wandgemälde vordringt –und dabei immer mehr ins Staunen kommt über dieses kolossale Kunstwerk -, dabei immer wieder Besuch bekommt von der schönen Alice oder der neugierigen Kathy, kommt er, ohne es zu merken, auch wieder ins Leben zurück. Diese Allegorie gefiel mir sehr – indem die Figuren des Wandgemäldes sichtbar werden, werden es auch die Dorfbewohner. Der Schlüsselsatz der Erzählung klingt zwar etwas holprig (was sehr schade ist), trifft es aber auf den Punkt: „Doch dann wurde ich, wie es sich eben so zuträgt, in das sich vor meinen Augen verändernde Gemälde namens Oxgodby hineingezogen...“
Sein Gesichtszucken läßt nach, er stottert nicht mehr – und er gesteht sich ein, daß er sich unsterblich in die schöne Pfarrersfrau Alice  verliebt hat.
Die Erzählung von knapp 160 Seiten ist von einer leuchtenden Dichte, jedes Wort, jeder Satz hat Bedeutung und Gewicht.
Und diese Naturbeschreibungen! Wir erleben mit Mr. Birkin einen sirrend heißen August, der nie zu Ende zu gehen scheint. Und meinen, diesen Monat auf dem Land in Oxgodby mit allen Sinnen mitzuerleben.
Die kleine Erzählung erschien schon in den 1980er Jahren in England (der Autor starb 1994) und ist dieses Jahr in Deutschland erschienen. Was für ein Glück!

Copyright: Cornelia Conrad

Samstag, 1. Oktober 2016

Matthias Brandt: Raumpatrouille

Copyright: Cornelia Conrad
Ich bin Gott sei Dank den Rezensenten gefolgt, die dieses Buch hymnisch besprachen. Ich werde ja immer skeptischer, was das Hochfeuilleton angeht – aber hier: Halleluja! Dieses Buch ist einfach grandios.
Brandt erzählt Geschichten.
Und weil er ein sehr empfindsamer Mensch zu sein scheint, werden die Geschichten vor allem von einem getragen: von einer so dichten Atmosphäre, daß man meint, nicht Zuschauer in ihnen zu sein, sondern Beteiligter.
Was in diesen Geschichten Fiktion ist und was real – das ist völlig gleichgültig.
Denn diese Miniaturen stehen  für eine Zeit, die uns heute schon vorkommt wie  ein anderes Universum: die 60er Jahre.
Die  Geschichte „Kein Laut“ handelt vom Flüchtlingskind Ansgar. Ansgar wird von seinem Vater ständig striemenrot geprügelt, und weil er deshalb stottert und ängstlich und defensiv geworden ist, provoziert er seine Mitschüler geradezu, ihn zu quälen. Brandt freundet sich  heimlich mit ihm an – denn er will ja weiter zur Klasssengemeinschaft gehören! -,  und verrät  deshalb diese heimliche Freundschaft ständig; auch das nimmt der zerstörte Ansgar willenlos hin.
Oder die Geschichte „Nirgendwo sonst“: Der kleine Matthias ist eingeladen bei Holger. Da geht es aufgeräumt und familiär zu, abends wird gemeinsam bei Schnittchen „Drei mal Neun“ mit Wim Thoelke angeschaut; der riesige Fernseher prangt in der Gelsenkirchener Barockwand, der „Vatter“ trägt die beliebte Freizeitkleidung Trainingsanzug plus Unterhemd plus Cordschlappen von Romika. Die Mutter einen einteiligen  orangefarbenen Frotteeanzug.

Donnerstag, 25. August 2016

Jeannette Walls: Ein ungezähmtes Leben

Copyright: Cornelia Conrad
Noch ein Sommer-Ferien-Buch, das ich grade mit gieriger Lust verschlungen habe: „Ein ungezähmtes Leben“. Die Story lockte mich, vor allem, da mir das erste Buch der Autorin schon so gut gefallen hatte („Haus aus Glas“). Übrigens erzählte mir gestern eine junge Freundin (der ich auch von dem Buch vorgeschwärmt habe), daß sie dieses Buch im Englisch-Leistungskurs gelesen hätten...

Wenn man das Buch aufschlägt, blickt einen eine bildhübsche, selbstbewußte junge Frau an. Sie hat einen unglaublich tollen Mund, neugierige Augen und das alles wird betont durch ihren 20er-Jahre-Bob.
Ich beneide Jeannette Walls ein wenig um diese Großmutter – wer so eine Vorfahrin hat, bekommt eine großartige Mitgift.
Hier kommt nun also die Geschichte von Lily Casey Smith.
Sie ist die große Stütze ihres Vaters, der eine Ranch betreibt.
Als sie zehn Jahre alt ist, rettet sie ihren kleineren Geschwistern das Leben – vor dem nahenden Hochwasser klettert sie mit ihnen in einen Baum; und damit sie aushalten, bis das Wasser wieder abfließt, zwingt sie die beiden Kleinen, sämtliche US-Staaten aufzusagen, sämtliche Präsidenten zu nennen.
Sie reitet Pferde ein. Mit fünfzehn reitet sie durch halb Amerika, um eine Stelle als Hilfslehrerin anzutreten.

Freitag, 12. August 2016

Homer Hickam: Albert muß nach Hause

Copyright: Cornelia Conrad
Also – das ist eins von den Büchern, die man in den Ferien am Strand liest – und dabei gar nicht merkt, daß man Sonnenbrand kriegt; so sehr ist man von der Geschichte gefesselt.
Ich bin ganz aus dem Häuschen  von diesem leichtfüßig daherkommenden, temporeich erzählten, abgedrehten, skurrilen – was noch? durchaus Gedanken anregenden Roman.
Es ist keine „hohe“ Literatur, die Sprache ist nix besonderes. Aber der Plot ist so klasse, daß das überhaupt nicht ins Gewicht fällt.
Es geht um eine Menage à trois, aber von einer sehr skurrilen Art:
Homer liebt Elsie. Elsie liebt Albert, ihren Alligator. Und außerdem liebt Elsie   immer noch ihre Jugendliebe Buddy. Der ist in der jungen Ehe von Homer und Elsie omnipräsent, denn Albert, der Alligator,  war ein Hochzeitsgeschenk für Elsie.
Aber Albert wächst. Und Homer stellt seine Elsie vor die Entscheidung: Er oder ich! Elsie hasst das Kaff Coalwood, West Virginia, in dem ihr Mann Bergarbeiter ist und in dem es immer staubig und dreckig ist – und so findet sie den Plan nicht schlecht, Albert in die Freiheit zu entlassen: nicht irgendwo - sondern dort, wo er herkam: im sonnigen Florida.

Donnerstag, 28. Juli 2016

Petra Reski: Ein Land so weit

Copyright: Cornelia Conrad
„Meine Großmutter wollte nie zurück. Aber am Ende einer jeden Familienfeier wurde immer das Ostpreussenlied gesungen und danach weinten alle. Uns Kindern war das immer peinlich. Meine Grußmutter weinte, meine Tanten und Onkel weinten, auch die Angeheirateten weinten, die Ostpreussen gar nicht kannten, nur meine Cousins und ich tranken Eierlikörflip und aßen dazu Salzstangen.“
Petra Reski erzählt über ihre Kindheit und Jugend, in der es eine sehr dominierende Frau gab: ihre Großmutter. Diese Großmutter hat die Resolutheit von Irene Disches „Großmama“, sie hat die ganze Familie im Griff, ohne sie geht nichts.
Petra Reski sind die Erzählungen von „der Heijmat“ entsetzlich. Vor allem, da die ja eine virtuelle zu sein scheint. So weit fort. Trotzdem profitiert sie davon: wenn sie mit ihrer Busenfreundin Gabi, mit der sie ständig im Clinch liegt, Stadt-Land-Fluß spielt, punktet sie bei Stadt immer mit „Allenstein“ –was Gabi überhaupt nicht passt. Wo soll das denn überhaupt sein?!
Ich habe Tränen gelacht bei Reskis Beschreibung von Familienfeiern.

Montag, 18. Juli 2016

Ulla Lachauer: Der Akazienkavalier

Von Menschen und Gärten
Copyright: Cornelia Conrad

Ich bin ganz verzaubert von diesem Buch.
Und weil  jetzt endlich Gartenwetter ist, möchte ich es allen Gärtnerinnen, Urlauberinnen oder Zuhause-Bleiberinnen allerwärmstens empfehlen! Ulla Lachauer hört Menschen zu, die über ihr Leben erzählen; und darin hat immer  ihr Garten eine wesentliche Rolle gespielt.
Es fängt damit an, daß sich die Erzählerin von ihrem Ficus trennt. Haben wir ja alle mal gehabt, dieses raumgreifende, blätterabwerfende Ungetüm – und können uns also gut vorstellen, wie eng die kleine Dachgeschoß-Küche unterm wachsenden  Ficus wurde.
Nachdem sich Ulla Lachauer also schweren Herzens von diesem Ungetüm getrennt hat, wendet sie sich Menschen zu, die ihr ihre Gartengeschichten erzählen.
„Ich bin zur Verrücktheit geboren und zur Biederkeit verurteilt... Und beides lebe ich in meinem Garten.“ Sagt die blinde Gärtnerin aus Freiburg.

Mittwoch, 29. Juni 2016

George Eliot: Middlemarch

Copyright: Cornelia Conrad
Mein Liebster war von diesem Buch so begeistert, daß er oft laut vor sich hinlachte. Und er las mir immer wieder besonders großartige Stellen daraus vor (eigentlich hätte er mir gleich das ganze Buch vorlesen können!). Deshalb habe ich mich ausnahmsweise dazu entschlossen, ihn hier zu einem Gastbeitrag einzuladen - damit Euch seine große Lesefreude anstecken möge. Voià:


Middlemarch!

Über die großen britischen Romanschrifststeller des 19. Jahrhunderts glauben wir
Bescheid zu wissen: Austen, die Brontës, Dickens, Stevenson, Mary Shelley, die uns
den „Frankenstein“ bescherte. Wir reden vom „Jahrmarkt der Eitelkeiten“, auch wenn
uns William Makepeace Thackeray vielleicht nicht so geläufig ist. George Eliot
dagegen, die eigentlich Mary Anne Evans hieß, steht nur bei wenigen auf der inneren
Bestsellerliste. Ihr Buch „Middlemarch“ wurde vergangenes Jahr von 82
internationalen Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern zum bedeutendesten
britischen Roman gewählt. Sie waren von der BBC um ihr Urteil gebeten worden, und
selbstverständlich war kein Brite darunter.
In der Kleinstadt Middlemarch und in den umliegenden Herrenhäusern des
mittelprächtigen Landadels leben um 1830 sehr unterschiedliche Leute. Sie müssen
sich mit Liebeskummer, idealistischen Ideen, überkandidelten Berufsvorstellungen,
Erbstreitigkeiten, Geldsorgen, politischen Reformen und gesellschaftlichen
Vorurteilen herumschlagen, mit Religion, mit dem jämmerlichen britischen
Gesundheitswesen, mit der Bedrohung durch eine unheimliche Erfindung namens
Eisenbahn und noch mit ein paar anderen Sorgen.

Sonntag, 29. Mai 2016

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Copyright: Cornelia Conrad
Ich möchte  zurück in den Roman!
Eine derart dichte, atmosphärische Geschichte habe ich sehr lange nicht gelesen.
Sie hat mich so tief beeindruckt, daß ich vorläufig kein neues Buch anfangen kann – ich muß noch eine Weile in der Nähe von Marie-Lore und Werner leben. Da hat grad nichts anderes Raum.
Marie-Lore ist ein blindes Mädchen. Sein einfühlsamer Vater baut ihm das Pariser Arrondissement, in dem sie leben, in maßstabsgetreuer Miniatur nach, Haus für Haus, Straße für Straße, Baum für Baum. So kann Marie-Lore mit den Händen lernen, was später ihre Füße umsetzen müssen.
Parallel dazu lesen wir die Geschichte Werners, eines Waisenjungen, der in der Nähe von Essen bei einer Elsässerin aufwächst. Durch die er Französisch lernt. Werner ist ein neugieriger Tüftler, baut aus Schrotteilen ein kleines Radio zusammen, hört mit seiner Schwester fasziniert einem Franzosen zu, der  Wissenschaftssendungen für Kinder so hinreißend vorträgt, daß die Geschwister viel daraus  lernen. Bald hat Werner im Städtchen einen exzellenten Ruf als Radio-Experte,

Samstag, 7. Mai 2016

Irmgard Keun: Kind aller Länder

Copyright: Cornelia Conrad
 „In den Hotels bin ich auch nicht gern gesehen,  aber das ist nicht die Schuld von meiner Ungezogenheit,  sondern die Schuld von meinem Vater, von dem jeder sagt: dieser Mann hätte nie heiraten dürfen.“
So beginnt der Roman „Kind aller Länder, in dem die zehnjährige Kully  ihre Geschichte vom Leben aus dem Koffer erzählt..
Dieser Vater, der nie hätte heiraten dürfen, war einmal ein berühmter Schriftsteller. Der von seinen Büchern leben konnte. Die Zeiten sind vorbei, die kleine Familie lebt meist in großer Armut. Sie ziehen als Getriebene von Land zu Land, von  Hotel zu Hotel: „Zuerst werde ich in den Hotels immer behandelt wie das Lieblingshündchen von einer reichen Dame. Die Portiers schenken mir Briefmarken..., und die Kellner wedeln mich freundlich mit ihren Servietten an.... Das hat aber alles ein Ende, wenn mein Vater fortfährt, um Geld aufzutreiben... Wir bleiben als Pfand zurück.“,

Sonntag, 17. April 2016

Jhumpa Lahiri: Einmal im Leben.

Einmal im Leben.
Copyright: Cornelia Conrad
Einmal im Leben?
WAS einmal im Leben?
Sich verlieben?
Den Richtigen finden?
Ankommen?
Gesehen werden?
Die Erzählung von Jhumpa Lahiri lässt mich nicht los.
Es werden uns zwei Kinder gezeigt, die sehr unterschiedlich sind. Das einzige, was die Beiden verbindet: sie sind Kinder bengalischer Einwanderer, die in den USA leben. Ihre Eltern waren einmal sehr befreundet – aber wohl eher, weil sie aus dem gleichen Land stammten, als daß sie große Gemeinsamkeiten hätten: Hemas Eltern sind sehr konservativ und etwas kleinbürgerlich. In ihrem Badezimmer stehen Avon-Fläschchen (!), Hemas Vater trägt eine Strickweste überm Hemd, ihre Mutter trägt nie einen Rock („das fand sie unschicklich“). Kaushiks Eltern dagegen sind Weltbürger. Die selbstverständlich Englisch reden. Und abends ihren Johnnie Walker trinken (zum Entsetzen von Hemas Eltern). Kaushiks Vater trägt immer Anzug und Krawatte, seine Mutter kauft gern in teuren Boutiquen ein. Sie haben   ihr inneres Ghetto längst verlassen.
Jetzt sind die  Kinder der beiden Paare beinah unter Zwang  dazu verdonnert, unter einem Dach zu leben.  Kaushiks Eltern haben  eine Zeit lang  in Indien gelebt. Jetzt sind sie zurück in Massachusetts  und bitten  Hemas Eltern,  vorübergehend bei ihnen wohnen zu dürfen, bis sie wieder ein eigenes Haus gefunden   haben.

Samstag, 26. März 2016

Petra Morsbach: Opernroman

Wenn wir im Opernhaus auf unserem plüschroten Klappsessel sitzen und uns verzaubern lassen von Fidelio oder der Zauberflöte, können und wollen wir uns nicht vorstellen, daß es hinter dieser Welt des Zaubers eine andere, sehr realistische, Welt gibt – nämlich die hinter der Bühne. Jenseits des Vorhangs und der Vorstellung.
Über diese Welt jenseits des Vorhangs hat Petra Morsbach ein ganz unglaublich fesselndes Buch geschrieben. Und um es gleich zu sagen: das ist nicht nur für Theater- und Opernfreunde interessant. Jeder, der in einem Betrieb arbeitet, kennt es: der Fisch fängt am Kopf an zu stinken; und die Strukturen von Hierarchie, Eifersüchteleien, Liebeleien, Tratsch und Intrigen ähneln sich immer.
"Opernroman" spielt in einer eher provinziellen Stadt, an einem Dreispartenhaus: Oper, Schauspiel und Ballett. Das Buch nennt sich zwar "Roman", aber ich würde es eher als eine Collage bezeichnen. Es gibt viel Personal darin, und alle eint die Sehnsucht, Karriere zu machen, ganz groß rauszukommen, dieses Provinztheater endlich verlassen zu können. Sie sind beseelt vom Wunsch, große Künstler zu sein, und doch scheitern viele: weil sie zu alt sind; weil der allmächtige Generalmusikdirektor sie klein hält, denn er erträgt nicht, daß jemand besser ist als er selber. Jede der Figuren hat im Verlauf des Romans einmal ihren Auftritt, darf aus der Anonymität raus und vor den Vorhang treten, so daß wir sie lesend erkennen können. Dann tritt sie wieder zurück. Bindeglieder in dem Kosmos unterschiedlichster Charaktere sind Babs und Jan. Babs mit dem großen Herzen und dem klugen analytischen Kopf ist Regieassistentin; und Jan, schwul und aidskrank, ist ausgebilderter Pianist und Dirigent und studiert für 3000 Euro im Monat mit den Künstlern ihre Rollen ein.
Da gibt es das einstmals hochgefeierte Regie-Genie Helmut Glitter. Hat als Bühnenbildner angefangen. Karriere als Regisseur gemacht. Jetzt soll er dem Neustadter Theater zu Beachtung verhelfen mit seiner Inszenierung von Figaros Hochzeit. Glitter ist der Prototyp des selbstverliebten einzig wahren Künstlers: fordernd, laut, destruktiv. Ihm muß sich alles unterordnen: Sänger, Musiker und natürlich auch Mozart.
Oder den Franzosen Laurent, der Konzertmeister ist und vor lauter Hingabe an seine Musik das Leben verlernt hat: "privat wollte er seine Ruhe, er lächelte steif und hörte nicht zu. Souverän war er nur in seiner Arbeit: daheim fühlte er sich überfordert. Kinder lehnte er kategorisch ab. Gefühlsausbrüche ekelten ihn, während seine Frau davon zehrte, und so kam es, daß die Frau an seiner Seite vereinsamte."
Oder Andrea, die Inspizientin, die die fatale Neigung hat, sich immer in die falschen Männer zu verlieben: in den Charakterbariton Dave, der leider zu viel trinkt. Oder in Charlton, den Tenor, der sich nicht von seiner Frau trennen mag.
Petra Morsbach weiß, wovon sie schreibt. Sie hat viele Jahre lang am Theater gearbeitet. Man merkt ihr ihre Sympathie für die meisten ihrer Personen an, sie skizziert sie mit freundlichem Mitgefühl.

Ich habe das Buch sehr langsam gelesen. Denn jedes Schicksal darin hat eigentlich das Zeug zum Roman. Das ist es auch, was mich dann so betört hat: daß die Autorin mir mit ein paar Skizzenstrichen jemanden zeigt, den dann meine Phantasie mit Leben ausfüllen kann.


Copyright: Cornelia Conrad

 

 

,

 

Montag, 29. Februar 2016

Franz Hessel: Der Kramladen des Glücks

Copyright. Cornelia Conrad
Ist das nicht ein Titel, der einem sofort Lust macht auf das Buch?
 Mich hat dieser "Kramladen des Glücks" schon lange fasziniert: ich stellte mir etwas Verwunschenes und Zartes vor, abseits des lauten Getöses schriller Buchtitel.
Manchmal schleppt man also jahrelang so ein geheimnisvolles Gewisper mit sich herum, ohne es entschlüsseln zu wollen – es verlöre seinen Reiz.
Eines Tages schaltete ich auf einer Autofahrt das Radio ein - und war enthusiasmiert von der Sprache einer ganz leisen Geschichte:
Da schlendert ein junger Mann auf der Suche nach einem Zimmer durch die Straßen einer Stadt... Trifft auf eine Vermieterin, die offensichtlich anderes mit ihm vorhat: "er gab karge Antworten und sah verloren in den hochfrisierten Haarwald der Dame."... Landet schließlich bei drei ältlichen adligen Schwestern, in deren Garten er "nur zur Miete" herumspaziert...
Ich wollte mehr wissen über diesen aus der Zeit gefallenen jungen Mann und blieb deshalb so lange im Auto sitzen, bis die Absage der Lesung kam: "Sie hörten in `Fortsetzung folgt` `Der Kramladen des Glücks` von Franz Hessel."
Jetzt stieg dieser Titel, der mich so lang umwispert hatte, wie die Schaumgeborene aus dem Meer meiner Phantasie – und deshalb mußte das Buch mit dem verheißungsvollen Titel endlich seinen Einzug ins Bücherhaus halten. (Dank booklooker ging das schnell und problemlos.)
Um es vorweg zu sagen: dieses Buch kann man nicht in einem Zug lesen. Es verlangt ganz langsames Lesen – so, als ob wir uns flanierend, schlendernd, in einer Straße jedes Haus ansehen würden, statt durch sie hindurch zu hasten.


Dienstag, 16. Februar 2016

Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer Himmel

Da sowohl das "Rosie-Projekt"

Copyright: Cornelia Conrad
als auch "Alle meine Wünsche" oft aufgerufen
werden in meinem Blog, finde ich es angebracht,
mal wieder so einen Schmöker der Extraklasse
zu empfehlen.
Denn was gibt es Schöneres,

als in einer intelligenten, gut geschriebenen
Schnulze zu versinken?! Ich zumindest brauche das hin und wieder.
Mit dem Roman "Morgen kommt ein neuer Himmel" habe ich mir einen Hotelabend versüßt: um 19 Uhr angefangen zu lesen – nonstop –, bis ich gegen 2 Uhr morgens erleichtert das Buch zuklappen konnte. Die Sogwirkung bei der Lektüre ist garantiert!
Die Handlung ist schnell erzählt: Brett hat eine sehr enge und liebevolle Beziehung zu ihrer Mutter. Aber leider stirbt Mutter Elizabeth relativ früh, und Brett versinkt in Verlassenheit und Trauer. Bei der Testamentseröffnung kriegt sie dann scheinbar eine reingewürgt: die tüchtige Schwägerin erbt die Firma der Mutter, Brett geht leer aus. Fast leer. Denn Elizabeth hinterläßt ihrer Tochter einen Brief mit einer beigelegten Liste. Diese Liste hat Brett mal geschrieben, als sie 14 – lauter Dinge, die sie in der Zukunft gern machen wollte. Die Liste landete aber dann im Papierkorb und in Vergessenheit. Brett hat keine Visionen mehr, sie ist zufrieden mit dem, was sie hat: einen Job, einen Freund, eine schicke Wohnung...



Samstag, 23. Januar 2016

Kate Atkinson: Die Unvollendete

Daß dieses Buch weit und breit einzig-
Copyright: Cornelia Conrad
artig ist, zeigt schon die Tatsache,
daß bei uns im Bücherhaus seit einer Woche darüber geredet wird;"hör mal"... "wie findest du"..."Frau Atkinson sagt"...
Diese Kate Atkinson ist eine unglaublich kluge, gebildete Frau mit einem Humor, der zum Niederknien ist.
Außerdem kann sie schreiben. Und wie!
Sie erzählt die Geschichte ihrer Heldin Ursula. Deren Lebensweg durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber es ist kein linear erzählter Lebensweg. Kate Atkinson hat sich etwas sehr Raffiniertes ausgedacht: sie läßt nämlich ihre Ursula in brenzligen Situationen sterben ("es wurde dunkel") – um sie dann sofort wieder ins Leben zu befördern. Wo Ursula die ganze Geschichte neu und anders anfängt. Und also eine Variation des Themas lebt.
Ob diese Vatiation allerdings besser ist als das ursprüngliche Thema, bleibt dahingestellt.
Ursula wird in einer schneereichen Nacht geboren. Der Arzt kommt zu spät, sie erstickt an ihrer Nabelschnur. Sie stirbt.
Ursula wird in einer schneereichen Nacht geboren. Der Arzt kommt rechtzeitig. Und Ursula lebt.



Donnerstag, 7. Januar 2016

Alex Capus: Fast ein bißchen Frühling

Die Dezemberpause ist vorbei – die Blog-

Copyright: Cornelia Conrad
gerin wünscht all ihren treuen Lesern
ein gutes neues Jahr.
Und passend zum Wetter empfehle ich Euch in diesen ersten Januartagen
"Fast ein bißchen Frühling"!
"Das ist die wahre Geschichte der Bankräuber Kurt Sandweg und Waldemar Velte, die im Winter 1933/34 den Seeweg von Wuppertal nach Indien suchten. Sie kamen nur bis Basel, verliebten sich in eine Schallplattenverkäuferin und kauften jeden Tag eine Tango-Platte..."
Da möchte man doch sofort weiterlesen, oder?
Dorly, Schallplattenverkäuferin im Warenhaus Globus in Basel, hat gerade ihren Mann verlassen, weil der sie jedesmal schlägt und würgt, wenn er (!) im Bett versagt hat. Sie "mied fortan den Umgang mit Männern".
Da laufen ihr Waldemar und Kurt über den Weg. Zwei junge Ingenieure, die aber, wie viele andre auch, in diesen Zeiten keine Arbeit haben. "Die paar freien Stellen sind für Parteimitglieder reserviert." Waldemar ist groß, ernst und grüblerisch, sein Freund Kurt klein, sonnig und heiter.
Die beiden haben gerade in Stuttgart eine Bank überfallen und dabei unbeabsichtigt den Filialleiter erschossen.