Unter Büchern

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Donnerstag, 19. November 2015

Jane Gardam: Ein untadeliger Mann




Copyright: Cornelia Conrad
Dieser "untadelige Mann" ist ein sehr raffiniertes und hin-tergründiges Buch!
Und ich bin hin und weg von der Kunstfertigkeit der Autorin. Denn: natürlich ist "der untadelige Mann"überhaupt nicht untadelig. Er wirkt nur so. Weil er diese Rüstung der Untadeligkeit so lange trainiert hat, daß er schließlich selbst dran glaubt.
Edward Feathers ist der Sohn eines britischen Beamten in Malaya. Die Mutter stirbt bei der Geburt. Und da der Vater sich nicht für seinen Sohn interessiert, wächst der, sehr frei und sehr geliebt, bei seiner malayischen Amme auf. Bis er vier Jahre alt ist. Da taucht die Missionarin Auntie May auf und sorgt dafür, daß der kleine Edward nach England in eine Pflegefamilie geschickt wird.
Vordergründig, um ihn vor den jetzt beginnenden Kinderkrankeiten zu schützen, die meist tödlich enden. Hintergründig allerdings, um Edward in seinem Vaterland zu einem guten richtigen Engländer des Empire zu dressieren.
Edward macht in seiner Pflegefamilie die Hölle durch. Er und die anderen Kinder dort werden physisch und psychisch über Jahre hinweg von der grausamen Ma Didds gequält. Das Grauen wird von der klugen Autorin nur angedeutet, aber diese scheinbar nebenbei gefallenen Beschreibungen reichen aus, um als Leser zu wissen: die Kinder dort müssen deformiert worden sein.
Edwards Rettung ist ein Internat, dessen Direktor, kurz und immer "Sir" genannt, den verschüchterten und stotternden Jungen fördert und fordert.
Edward wird Anwalt und heiratet Betty.
In seiner Selbstwahrnehmung ist alles wunderbar. Er ist ein guter Anwalt. Seine Ehe ist gut. Die Fassade glänzt.
Aber wenn andere Menschen auf Edward blicken – seine Frau, seine Kollegen, Nachbarn -, sehen sie einen ganz anderen Mann: arrogant, unsympathisch, sich selbst überschätzend bis hin zum Realitätsverlust.
Und erst als Betty stirbt, ist er in seiner inneren und äußeren Einsamkeit so weit, sich ganz vorsichtig dem – lebenslang tabuisierten – Kindheitstrauma zu stellen.
Trotzdem bleibt Edward reichlich unsympathisch – auch wenn wir ihn bedauern und auch wenn wir WISSEN, daß sein Leben ganz schön verkorkst war.
Aber Gefühle kann man eigentlich nicht haben für diesen "untadeligen Mann".

Jane Gardam ist eine raffinierte Autorin: sie (be-)wertet nicht. Sie erklärt nicht. Sie psychologisiert nicht. Es gibt keine Hintergrundinformationen, kein Umgraben des Seelenbodens. Sie erzählt "nur". Überläßt es ihrem Leser, den sie mit Fakten aus wechselnden Perspektiven versorgt hat, sich sein eigenes Bild von Edward zu machen. (Dieser Kunstgriff ist mir ganz besonders auch in Irène Némirovskys "Suite Francaise" und in Elizabeth von Arnims "Reisegesellschaft" aufgefallen. Hier wie dort werden ebenfalls die handelnden Figuren nicht bewertet, sondern schlichtweg vorgeführt, so daß der Leser sich eine eigene Meinung bilden darf.)

Es ist zum Staunen, was eine Könnerin mit Worten anregen, anrichten kann: der Film in meinem Kopf ist klar und eindeutig – und gleichzeitig frage ich mich: wie sieht der Film im Kopf anderer Leser aus?

Jane Gardam wird jetzt, mit 87 Jahren, in Deutschland entdeckt. In England ist sie längst eine bekannte, große Erzählerin. Ihr "untadeliger Mann" ist der erste Teil einer Trilogie, Teil 2 und 3 werden bald folgen.

 


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